Pocahontas, in 4 Bdn., Buch.4, TasKlaus Theweleit
Taschenbuch
Wenn es stimmt, dass die deutsche Geisteswissenschaft von einem Renommee zehrt, dessen Zeiten längst vergangen sind, dann ragen Klaus Theweleits Buchprojekte wie die Gedankengebäude des 19. Jahrhunderts in den akademischen Betrieb: sperrig, monumental und unverdrossen. Nur wenige deutsche Wissenschaftler schreiben so kontinuierlich wie der Freiburger Publizist - und in solchem Umfang. Seit seiner berühmten germanistischen Doktorarbeit Männerfantasien (1977) dreht sich sein Schreiben um das Motiv Männerherrschaft durch Frauenopfer. Theweleits neuester Mammut-Komplex, der aus einem geplanten Unterkapitel des Buchs der Könige I (1988) hervorgegangen ist, schreibt diesen ideologiekritischen Diskurs fort. Die jüngst erschienenen zwei (von vier) Bänden basieren auf der Geschichte des Indianermädchens Pocahontas, die einen weißen Siedler vor dem tödlichen Zorn ihres Vaters rettet. Für Theweleit ist die Pocahontas-Geschichte der "entscheidenste" Gründungsmythos der amerikanischen Nation. Hinter ihren teils widersprüchlichen Um- und Fortschreibungen sieht Theweleit die diskursive Macht der Kolonisatoren, die er in den historiografischen, poetischen und kulturellen Ablagerungen zu durchleuchten sucht. Letztlich geht es Theweleit um eine Theorie der Gewalt: Kämpfe zwischen Geschlechtern, Völkern und rivalisierenden mythologischen Diskursen. Der vierte Band der Pocahontas-Reihe ist die späte Interpretation eines frühen literarischen Skandals der Bundesrepublik: Arno Schmidts Erzählung Seelandschaft mit Pocahontas. 1955 erschienen, wurde sie von der konservativen Kritik sofort unter Pornografieverdacht gestellt und brachte ihrem Verfasser eine Klage wegen Gotteslästerung ein. Es geht um die Urlaubserlebnisse zweier älterer Kriegskameraden am niedersächsischen Binnensee Dümmer. In der Ich-Erzählung überlagern sich die Schilderungen der sexuellen Reize am See mit den Erinnerung ans Kriegsgeschehen. Sexualität als Aulöschung des Nazismus, " Seelandschaft als . . . Sexlandschaft", die latente Gewaltätigkeit der Körperszenen: Das sind die Motive, die Theweleits close reading verfolgt. Entstanden ist, laut Eigenwerbung, "ein Buch für Literaturverrückte", geschaffen, um zu "zeigen, wie ein literarisches Labyrinth funktioniert. " Nun sind literarische Labyrinthe nicht weniger unerforscht wie der Nachweis, dass Schmidt ein notorischer Textverschlüssler ist. Ungewöhnlich ist freilich, wie Theweleit zu Werk geht (und wer ihn bisher nicht kennt, wird staunen!): Hier hat man es mit einer zerebralen Artistik zu tun, die sich ganz dem Gedankenblitz, dem Fundstück hingibt. Zu sehr, kann man finden. Das Problem an Theweleits hartnäckig unorthodoxer Polyhermeneutik ist nicht, dass sie unzulässig wäre; das Problem ist, dass ihre vielfältigen Illustrationen von der großen These (etwa: die Dialektik von Befreiung und Sexualität) ablenkt. Kopfschmerzen statt Erkenntnisfever. Was (hängen)bleibt ist eine atemberaubende Zusammenschau aus Pornocartoons, Groschengromanen, Filmtrivia und dem Schlagerrefrain von Peggy Lees " You Give Me Fever", der sich wie ein Cantus firmus durch dieses Buch zieht. Und trotz der bisweilen anstrengenden Banalität der Konjekturen liefert Klaus (für manche nur: " The Wehleid") Theweleit die Umsetzung eines diskurstheoretischen Glaubensbekenntnisses, das zeitgemäßer erscheint als die formalen und analytischen Verpflichtungen an die good old times der deutschen Geisteswissenschaft. Und wie immer: Viele schöne Bilder sind auch dabei! -Nikolaus Stemmer
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