Die schattige Hauptstraße: RomanLászló Márton
Gebundene Ausgabe
Wie ein schlechter Witz klingt die Anekdote aus Laszló Martóns zweitem Roman < I> Die schattige Hauptstraße: " Jemand . . . erzählt 1958, zwei Jahre nach der Niederschlagung der Oktoberrevolution, freudestrahlend seiner Frau, daß in der Zeitung steht, Jóska Gáli sei zum Tode verurteilt worden, . . . den sein Freund zuletzt vierzehn Jahre zuvor gesehen hat, beim Verladen in die Waggons. Fragt ihn seine Frau: Warum er sich so sehr darüber freue, daß Jóska Gáli zum Tode verurteilt worden sei? Antwort: Weil das bedeutet, daß er lebt!" Über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Menschenlebens berichtet der Autor am Beispiel einer ungarischen " Großgemeinde mit Stadtrang". < P> Die Möglichkeiten wurden den Menschen dort gleich zweimal genommen: erst durch die Nationalsozialisten, dann durch die Sowjets. Geblieben sind Schatten der Erinnerung an ein friedliches Zusammenleben von Juden und Christen vor dem Exodus. Der Autor kramt in vergilbten Fotos und erzählt von kauzigen alten und hoffnungsvollen jungen Menschen: vom philosophierenden Wirtshausbesitzer, den streitsüchtigen Papierhändlern, dem beinahe genialen Baron, den strebsamen Lehr- und Schulmädchen und vielen anderen. Über sie alle legt sich der Schatten der Geschichte. Die Zukunft ist ihnen genommen, außer dem Autor gefällt es, ihnen eine zu geben. Denn das Hauptcharakteristikum des Erzählers ist, dass er den Menschen, von denen er erzählt, die Chance gibt, die sie nicht hatten. Er notiert Anekdoten, verwirft und verändert sie, verschachtelt sie in kunstvoller Manier und rettet, was (nicht) zu retten ist. Martóns Spiel mit der Möglichkeit übertrumpft die Wirklichkeit. < P> Sein Landsmann Imre Kertész erhielt für den Roman eines Schicksallosen, in dem er eigene Erfahrungen im K Z schildert, den Nobelpreis 2002. László Martón webt aus fremden Schatten ein fantasievolles Geschichtenkleid, das die blutbefleckte Vergangenheit notdürftig verhüllt. Der Blick auf die Vergangenheit ist Voraussetzung für eine bessere Zukunft, deshalb sind Bücher wie die von Kertész und Márton so wichtig. < I>-Beatrice Simonsen
|